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Etta Scollo: Nirgendland - Hommage an Mascha Kaléko (Review)
Artist: | Etta Scollo |
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Album: | Nirgendland - Hommage an Mascha Kaléko |
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Medium: | CD/Download | |
Stil: | Folk, Liedermacher-Pop, Vocal-Jazz, Kunstlied, Literaturvertonung, Italo-Pop |
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Label: | Jazzhaus Records | |
Spieldauer: | 44:40 | |
Erschienen: | 10.01.2025 | |
Website: | [Link] |
„Seht euch an, was der Mensch dem Menschen angetan hat. Reißt das Heftpflaster der Bequemlichkeit herunter, und lasst die Wunde rein ausbluten - sonst heilt sie nie.“
Diese Sätze wollte die jüdische Dichterin Mascha Kaléko nach dem Besuch eines Dokumentarfilms über die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse den Kinogängern auf dem Berliner Kurfürstendamm am liebsten entgegenschreien, weil sie die deutschen Verdrängungsmechanismen der Nachkriegsjahre so abstoßend fand. Sie selbst war 1938 in die USA emigriert und so der Mordmaschinerie der Nazis knapp entkommen.
Welcher Satz könnte besser in diese heutige Zeit passen, in der die Geschichtsvergessenheit und die schon von Kaléko angeprangerte "Bequemlichkeit" der Demokraten immer weiter um sich greifen, in der Brandmauern zur extremen Rechten bröckeln, lächerlich gemacht und letztlich geschleift werden? Umso wichtiger (wenn auch im pro-demokratischen Effekt leider kaum messbar), dass es Alben wie "Nirgendland - Hommage an Mascha Kaléko" von ETTA SCOLLO gibt.
Und schön, dass die 1907 in Galizien (damals Österreich-Ungarn) geborene, 1975 in Zürich gestorbene Poetin der Neuen Sachlichkeit und der ewigen Flüchtlings-Melancholie endlich im großen Stil wiederentdeckt wird. Zum 50. Todestag der Kaléko am 21. Januar ist diese Platte der Italienerin SCOLLO erschienen, und sie reiht sich mit einem ganz eigenen Schwermut-Ansatz und mediterraner Atmosphäre ein bei den verdienstvollen Hommage-Werken der vergangenen Jahre.
Gerade erst hat der Bestseller-Autor Daniel Kehlmann ("Die Vermessung der Welt", "Tyll", "Lichtspiel") unter dem Titel "Mascha Kaléko: Ich tat die Augen auf und sah das Helle" ihre wichtigsten Gedichte und Prosa-Stücke in Buchform herausgegeben. Obwohl zu Lebzeiten mit deutschen Literatur-Ikonen wie Heinrich Heine, Erich Kästner und Joachim Ringelnatz verglichen, sei sie letztlich die "undeutscheste deutsche Dichterin" gewesen, stellt Kehlmann - der übrigens im Januar 1975, nur wenige Tage vor Kalékos einsamem Tod, geboren wurde - im Vorwort des edlen 256-Seiten-Bandes fest.
Gar nicht hoch genug loben kann man auch die popmusikalische Pionierin der Kaléko-Neuentdeckung, die wunderbare Berliner Liedermacherin Dota Kehr. Mit zwei umfangreichen Alben, "Mascha Kaléko" von 2020 und "In der fernsten der Fernen" von 2022, lenkte sie zusammen mit vielen prominenten Gästen (Hannes Wader, Max Prosa, Konstantin Wecker, Dirk von Lowtzow, Clueso) Augen und Ohren vieler Songwriter-Pop-Fans auf die mal gewitzt-humorvollen, mal dezent melancholischen, mal tieftraurigen Gedichte der fast vergessenen Mascha Kaléko.
Dota ist ihrerseits nun zweimal Gast auf "Nirgendland" von ETTA SCOLLO. In den Liedern "Quasi un 'Giano-scritto'" (wo sie italienisch singt) und "Es regnet" kontrastiert ihre warme, zugleich angenehm herbe Stimme effektvoll mit dem dramatischeren Stil der 1958 in Sizilien geborenen, heute zeitweise auch in Berlin lebenden Kollegin. Zwar gibt es Überschneidungen zwischen den Kaléko-Tribute-Alben, aber da die Herangehensweise an die teils fast 100 Jahre alten Texte doch recht unterschiedlich ist, lohnen sich alle drei Platten für Freunde von Literaturvertonungen, Liedermacher-Musik, Folk-Jazz, Kunstlied und anspruchsvollem Italo-Pop.
ETTA SCOLLO interpretiert die 16 Stücke von "Nirgendland/Nessunluogo" auf Deutsch (mit prächtigem Akzent), Italienisch und Englisch - und man spürt zu jeder Sekunde dieser außergewöhnlichen Hommage, dass ihr die Verbeugung vor der großen, unglücklichen Dichterin Mascha Kaléko ein Herzensanliegen ist. Wer etwa bei der Ballade "Bericht aus einer Kindheit", der politisch aufrüttelnden Holocaust-Klage "Zeitgemäße Ansprache" oder "Der Eremit" keinen Kloß im Hals spürt, muss wohl zu den ganz Hartgesottenen gehören.
"Mascha Kaléko verkörperte mit ihrer Poesie das Gleichnis des Exils und das Schicksal des Exilanten, die Suche nach Frieden, nach Schönheit im Leben, die Wurzel der menschlichen Existenz", sagt SCOLLO über ihren Hommage-Impuls. "Aus all diesen Gründen ist ihr Vermächtnis für uns heute außerordentlich wertvoll. Ich widme dieses Werk Mascha Kaléko, damit sie nicht ein zweites Mal stirbt."
Die Begegnung der italienischen Musikerin mit dem Werk der deutschen Dichterin begann schon 2007 in Catania/Sizilien. In einem kleinen Buchladen entdeckte ETTA SCOLLO einen zweisprachigen Gedichtband von Mascha Kaléko, die Lyrik faszinierte sie. "Ich hatte das Buch immer dabei und das Gefühl, ihre Gedichte begleiteten mich wie eine gute Freundin." Die Idee, Kalékos Gedichte musikalisch zu interpretieren, reifte dann noch einige Jahre. Mit der Unterstützung von Kulturinstitutionen wie der renommierten Villa Massimo in Rom, bei der die Künstlerin eine zweimonatige Künstlerresidenz verbrachte, wurde das Projekt konkret. Eine wichtige Rolle spielte auch die ideelle Unterstützung der Stiftung Exilmuseum in Berlin.
Das von ETTA SCOLLO am Ende des Albums solo gesungene Titelstück „Nirgendland“ ist von Mascha Kalékos Gedicht "Kein Kinderlied“ inspiriert. Darin schrieb die Lyrikerin über ihre Entwurzelung und Einsamkeit nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust, als sie nach Deutschland zurückkehrte und schnell desillusioniert wurde: "Die Wälder sind verschwunden, die Häuser sind verbrannt. Hab keinen mehr gefunden. Hat keiner mich erkannt. Und als der fremde Vogel schrie, bin ich davongerannt. Wohin ich immer reise, ich komm nach Nirgendland.“
FAZIT: Dieses facettenreiche Album von ETTA SCOLLO ist, obwohl intimer, auch mal anstrengender und daher sicher nicht so zugänglich wie die vorherigen Dota-Hommage-Platten, ein kraftvoller, berührender Weckruf gegen Ausgrenzung, Rassismus und Hass. Ein wichtiges Werk gegen das "Heftplaster der Bequemlichkeit" (Mascha Kaléko). Mehr muss man in diesen Zeiten darüber kaum sagen.
- 1-3 Punkte: Grottenschlecht - Finger weg
- 4-6 Punkte: Streckenweise anhörbar, Kaufempfehlung nur für eingefleischte Fans
- 7-9 Punkte: Einige Lichtblicke, eher überdurchschnittlich, das gewisse Etwas fehlt
- 10-12 Punkte: Wirklich gutes Album, es gibt keine großen Kritikpunkte
- 13-14 Punkte: Einmalig gutes Album mit Zeug zum Klassiker, ragt deutlich aus der Masse
- 15 Punkte: Absolutes Meisterwerk - so was gibt´s höchstens einmal im Jahr
- Nacht ohne Schlaf
- Inventar/Inventario
- Chanson für Morgen
- Quasi un 'Giano-scritto'
- Now's The Time
- Bericht aus einer Kindheit
- Seiltänzerin ohne Netz
- Zeitgemäße Ansprache
- Dove si incontrano spazio e tempo...
- Es regnet
- Der Sternanzünder
- L'eremita/Der Eremit
- Ho eletto l'amore a mio rifugio
- Zur Heimat erkor ich mir die Liebe (Gedichttitel: Die frühen Jahre)
- Mein schönstes Gedicht...?
- Nirgendland (Gedichttitel: Kein Kinderlied)
- Bass - Andreas Henze
- Gesang - Etta Scollo, Dota Kehr, Eva Mattes, Maddalena Crippa
- Gitarre - Etta Scollo
- Keys - Ferdinand von Seebach
- Sonstige - Susanne Paul (Cello), Tara Boumann (Klarinette), Els Vandeweyer (Vibraphon), Eva Mattes (Rezitation), Chor des Albert-Einstein-Gymnasiums Berlin (Chorgesang), L'ensemble di archi (Streicher-Arrangements)
- Nirgendland - Hommage an Mascha Kaléko (2025) - 12/15 Punkten
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